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Titel
Deportationen dokumentieren und ausstellen. Neue Konzepte der Visualisierung von Shoah und Porajmos


Herausgeber
von Wrochem, Oliver
Reihe
Neuengammer Kolloquien
Erschienen
Berlin 2022: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Meibeck, Universität Potsdam

Der Sammelband basiert auf zwei Tagungen, die 2019 und 20201 unter anderem von der Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg ausgerichtet wurden und sich mit aktuellen Ausstellungsprojekten zu Shoah und Porajmos beschäftigten sowie mit der Frage, wie diese Verbrechenskomplexe „zeitgemäß“ (S. 9) dargestellt und vermittelt werden können. In 16 Beiträgen diskutiert der Band innovative Ausstellungskonzepte an historischen Orten sowie darüber hinaus und beschäftigt sich mit den Herausforderungen und Potentialen regionalgeschichtlicher Perspektiven in der musealen Darstellung und Vermittlung von Verfolgung und Deportation. Im Zentrum der Diskussion stehen deutsche Ausstellungs- und Dokumentationsprojekte, einbezogen werden aber auch Perspektiven aus Ländern des östlichen und westlichen Europas sowie Israels. Die Beiträge sollen, so Herausgeber Oliver von Wrochem, nicht nur einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen und Fragestellungen im genannten Themenspektrum geben, sondern auch Impulse für kommende Projekte bieten (S. 11).

Der Sammelband gliedert sich in drei Teile, abgerundet durch die Dokumentation eines Podiumsgespräches zu Zielorten der Deportationen, das Sarah Grandke anlässlich der Tagung „Verfolgung und Deportationen von 1938 bis 1945 in Europa dokumentieren und ausstellen“ mit Expertinnen und Expertinnen aus Belarus, Deutschland, Lettland und Tschechien führte.

Der erste Teil beschäftigt sich mit Ausstellungskonzepten an historischen Orten von Verfolgung und Deportation. In den fünf Beiträgen werden die Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen, die die jeweiligen historischen Orte mit sich bringen, diskutiert. Dabei geht es sowohl um eher pragmatische Fragen des zur Verfügung stehenden Raumes oder der gestalterischen Einschränkungen durch den Denkmalschutz (S. 48f.) als auch darum, welche Fragen sich aus den Orten selbst und ihrer Verortung im Stadtraum ergeben und wie diese in den betreffenden Ausstellungen vermittelt werden können. Oliver von Wrochem diskutiert in seinem Beitrag zum Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ am ehemaligen Güterbahnhof in Hamburg, von dem aus die meisten Züge aus dem norddeutschen Raum in die Ghettos und Lager Osteuropas abgingen, das Potential des historischen Ortes, die Sichtbarkeit von Verfolgung und Deportation für die damalige Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren. Die Verbrechen, so von Wrochem, fanden in aller Öffentlichkeit, in „gesellschaftlichen Nahräumen“ statt. Die damit verbundene Frage nach dem „Hin- und Wegschauen“ biete Besuchenden der Ausstellung die Möglichkeit, ihr Denken und Handeln in der Gegenwart zu hinterfragen (S. 30f.). Ähnlich argumentiert auch Joachim Schröder in seinem Beitrag zum Erinnerungsort Alter Schlachthof auf dem Campus der Hochschule Düsseldorf, einer ehemaligen Deportationssammelstelle. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit solle Anlass zur Reflektion der Gegenwart bieten und Ausgrenzungsstrukturen und diskriminierende Denkmuster hinterfragen, die „noch heute virulent“ seien (S. 74).

Der zweite Teil behandelt Ausstellungen und Vermittlungsformate jenseits historischer Orte, darunter auch Online-Angebote. Gottfried Kößler und Heidemarie Uhl werfen in ihren Beiträgen zu einer Erinnerungsstätte in Frankfurt am Main respektive zur musealen Darstellung der Shoah in Österreich die ganz grundsätzliche Frage auf, warum die Verantwortung für Ausstellungen und die Erinnerung an die Shoah meist jüdischen Museen und Institutionen überlassen werde. Die Fokussierung auf die Opfer, so Kößler, lenke von den Tatverantwortlichen der Verbrechen ab und erwecke den Eindruck, dass die Erinnerung an die Shoah eine jüdische Angelegenheit sei (S. 172). Uhl bezieht sich auf den Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Wien und problematisiert das „Nicht-Ausstellen in anderen Museen“ der Stadt, die damit diesem Kapitel der österreichischen Geschichte auswichen (S. 120).

Zwei weitere Beiträge thematisieren das Potential digitaler Vermittlungs- und Informationsangebote, die jeweils frei zugänglich sind: Die Datenbank „Zugfahrten in den Untergang“ der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem beschäftigt sich mit den Deportationen von Jüdinnen und Juden in europäischer Dimension. Sie versteht sich laut Autorin Cornelia Shati-Geißler einerseits als Portal für Forschende und Interessierte, aber auch als „aktives Gedenkzeichen“ im digitalen Raum (S. 189). Akim Jah führt in seinem Beitrag zum Online-Archiv der Arolsen Archives das Potential des Portals für historische Bildungsarbeit aus, das sich insbesondere aus dem zeit- und ortsunabhängigen Zugang ergebe. Zudem eröffnen die umfassenden Archivbestände die Möglichkeit zu lokalhistorischen und biografischen Recherchen, die Lernenden besondere Identifizierungsmöglichkeiten böten (S. 202).

Im dritten Teil des Buches werden regionalgeschichtliche und transnationale Dimensionen der Deportationen aus Norddeutschland diskutiert sowie die Potentiale, die sich aus diesen Ansätzen und Perspektiven für die Vermittlungsarbeit ergeben. Johanna Schmied und Stefan Wilbricht stellen in ihrem Beitrag ein geplantes Ausstellungsmodul des Dokumentationszentrums „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ vor, das sich am Beispiel eines Wohnhauses in Hamburg-Eppendorf auf mikrogeschichtlicher Ebene dem Thema Nachbarschaft im Nationalsozialismus widmet. Das Thema Nachbarschaft löse Emotionen aus, so Schmied und Wilbricht, und knüpfe an den Erfahrungshorizont der Ausstellungsbesuchenden an. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage nach Handlungsspielräumen und Zeugenschaft rücke auch die Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ näher an die Besuchenden heran und provoziere so eine Reflektion des eigenen Verhaltens in der Gegenwart: „Wie verhalte ich mich?“ (S. 263).

Mit gegenwärtigen Anknüpfungspunkten und Identifikationsmöglichkeiten setzen sich auch Sarah Grandke und Karin Heddinga auseinander. Grandke stellt in ihrem Beitrag die Ergebnisse mehrerer internationaler Jugendworkshops am denk.mal Hannoverscher Bahnhof vor. Die Teilnehmenden setzten sich unter anderen mit transnationalen Fragestellungen auseinander, darunter auch die Frage nach der Relevanz der Geschichte des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen von Gewalt und Flucht. In ihrem Fazit argumentiert Grandke für transnationale Verbindungen und Beziehungen sowie Multiperspektivität als Leitgedanke in der Vermittlungsarbeit, um der transnationalen Dimension der Deportationsverbrechen gerecht zu werden (S. 279). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Karin Heddinga, die in ihrem Beitrag die Potentiale biografischer Interviews als Ausstellungselement diskutiert. Sie betont, die „universellen Fremdheitserfahrungen“, die in den Schilderungen ehemals Verfolgter zur Sprache kämen, böten insbesondere Personen mit eigenen Migrations- und Diskriminierungserfahrungen Anknüpfungspunkte zur eigenen Lebensrealität (S. 289). Durch diese Verknüpfung und die Darstellung der transnationalen Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen könnten, so Heddinga weiter, wichtige Impulse für die Anerkennung von Migration als „selbstverständliches Merkmal in heutigen Gesellschaften“ gesetzt werden (S. 292).

In einem abschließenden Ausblick diskutiert Ljiljana Radonić die Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Musealisierung von Deportationsbahnhöfen. Hinsichtlich des im Sammelband immer wieder thematisierten Gegenwartsbezugs zu aktuellen Diskriminierungsformen plädiert Radonić für eine präzise Rückbindung der Verfolgungsgeschichte an den jeweiligen historischen Ort, an den eine Ausstellung gebunden ist. Durch aufgemachte Parallelen und Vergleiche damaliger und heutiger Diskriminierungsformen könnten ansonsten „Kontinuitäten ausgespart und „mehr verdunkelt als erhellt“ werden, beispielsweise durch die Gleichstellung von historischem Antisemitismus mit heutiger antimuslimischer Hetze, die die Existenz von gegenwärtigem Antisemitismus und seiner Gefahr ausblende (S. 326).

Insgesamt bieten die in diesem Sammelband vorgestellten Projekte einen anschaulichen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Themenkomplex Deportation und den damit verbundenen Fragestellungen. Die lokalhistorischen Perspektiven auf den eigenen Stadtraum und damit die eigene Nachbarschaft provozieren, wie von Johanna Schmied und Stefan Wilbricht eindrücklich dargestellt, nicht nur Fragen nach historischen, sondern auch nach gegenwärtigen Handlungsspielräumen und schaffen Anknüpfungspunkte an die eigene Lebensumgebung. Der wiederholt diskutierte Ansatz, die Geschichte der Shoah und des Porajmos anhand biografischer Zugänge zu vermitteln, erscheint zwar nicht neu und ist in Gedenkstätten und Museen längst gängige Praxis, die dargebrachten Argumente überzeugen jedoch nach wie vor. Das Potential dieses Ansatzes für die Vermittlungsarbeit liegt dabei nicht nur in seinem empathischen und emotionalen Zugang zum Schicksal der ehemals Verfolgten, wie unter anderem Heidemarie Uhl darlegt (S. 134), sondern vor allem in der Möglichkeit zur Identifizierung vor dem Hintergrund eigener Lebensrealitäten und -welten sowie Erfahrungen von Flucht, Migration und Diskriminierung.

Der eingangs von Oliver von Wrochem formulierte Anspruch, zukünftigen Ausstellungsprojekten zum Themenspektrum Verfolgung und Deportation durch die Darstellungen jüngerer und aktueller Projekte neue Impulse zu bieten, wird zuverlässig eingelöst. Diese Denkanstöße umfassen einerseits inhaltliche und narrative Überlegungen, andererseits aber auch die Erarbeitung und methodische Umsetzung von Ausstellungsprojekten und Vermittlungsformaten (vgl. die Beiträge von Alina Bothe, Sarah Grandke und Joachim Schröder). Insgesamt überzeugt der Sammelband besonders aufgrund der zusammengetragenen jahre- bis jahrzehntelangen Praxiserfahrung und Expertise der Autorinnen und Autoren.

Anmerkung:
1 Vgl.: Tagungsbericht: Der Hannoversche Bahnhof. Ein Ort der Verfolgung und Deportationen von 1940 bis 1945, in: H-Soz-Kult, 28.02.2020, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127236; sowie Tagungsbericht: Verfolgung und Deportationen von 1938 bis 1945 in Europa dokumentieren und ausstellen, in: H-Soz-Kult, 07.04.2020, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127283. Jeweils zuletzt abgerufen am 27.07.2023.

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